Wenn der Kopf zu früh verdreht wird

Es ist mittlerweile über acht Jahre her. Doch manchmal denkt Tom noch immer an den Sommer des Jahres 2008. Und an das, was daraus resultierte. Manchmal setzt er sich sogar bewusst an einen ruhigen Ort, um die Szenen gedanklich aufzuwärmen. Vermutlich weil es ihm so vorgekommen war, als hätte er in einem Film mitgespielt, dessen Trailer er gerne nochmal sehen würde. Er muss zwar gestehen, dass auch aus seiner Sicht längst Gras über die Sache gewachsen ist, aber einen ganz bestimmten Gedanken wird er nicht los. Warum vergleicht er jene Erlebnisse noch immer mit denen von heute? Und weiter: Warum lässt er es nicht einfach?

Sophie hatte ihm damals mächtig den Kopf verdreht. Er lernte sie während der Abschlussfahrt in Italien in einer Disco kennen. Natürlich war Tom damals jung. Vom Leben hatte er keine Ahnung. Aber mit dem Abi in der Tasche fühlte er sich großartig. Perfekt, um sich mal so richtig zu verlieben. Als Sophie ihn von sich aus in der Disco küsste und ihn danach an seiner Hand nach draußen zerrte, war es um ihn geschehen. Angetrunken wankten sie Arm in Arm durch die laue Sommernacht, blieben auf dem Weg zum Strand unzählige Male knutschend stehen, witzelten und fanden sich schließlich auf einem Steg wieder, der raus aufs Wasser führte. Das war alles hochgradig kitschig, aber genau so wollte er es in diesem Moment. Auch wenn sich diesen triefenden Liebesfilm im Kino sicher niemand angesehen hätte. Aber was Tom in diesen Stunden fühlte, war außergewöhnlich. Er sah ihr so gerne in die Augen, nahm sie so gerne in den Arm. Sogar auf dem langen Weg zu ihrem Hotel begleitete er sie. Im Foyer verhielt er sich mit Sophie so albern, dass er von der Nachtwache kurzerhand rausgeschmissen wurde. Da stand er dann und kritzelte seine Nummer auf einen Zettel. Erst später fiel ihm auf, dass er bei all der körperlichen Nähe nie daran gedacht hatte, mit Sophie zu schlafen. Das alles sollte keine schnelle Sache werden, denn sie war schon jetzt mehr für ihn.

Zurück in Deutschland trennten Tom über sechs Stunden Zugfahrt von Sophie. Alles schrie nach einer endenden Urlaubsromanze, aber die beiden wollten es versuchen. Und es klappte sogar. Abwechselnd besuchten sie sich, nahmen die Entfernung in Kauf, wurden von den jeweiligen Familien gemocht. Ein halbes Jahr ging das Ganze gut, dann merkten sie erste Veränderungen. Man lebte in zwei verschiedenen Kreisen ohne gemeinsame Schnittmenge. Es waren zwei Welten. Und so unheimlich ähnlich, wie anfangs gedacht, war man sich dann doch nicht. Sophie hatte nach ihrem erstklassigen Abitur klare Ziele vor Augen. Und sie sprühte nur so vor Selbstvertrauen. Ehrgeiz war ihr wichtig. Das passte dann plötzlich gar nicht mehr so gut zu Tom, der meistens entspannt in den Tag hineinlebte. Die Euphorie verflog, aber Tom hätte trotzdem weitergemacht. Er hätte sich weiter in den Zug gesetzt, um sie zu sehen. Im Dezember wurde er ohne Kuss von ihr am Bahnhof abgeholt, um eine halbe Stunde später in der Küche ihrer WG zu erfahren, dass es vorbei sein sollte. Ihn traf das damals ziemlich hart. Er weinte sogar.

Sophie ist heute verheiratet und hat keinen Kontakt mehr zu Tom. Und er trauert ihr nicht mehr hinterher. Denn er glaubt nun, dass sie gar nicht so gut zu ihm gepasst hätte. Er ist einfach froh, dass er die Erfahrung in Italien machten durfte. Dass er der Hauptdarsteller sein durfte. Er selbst ist nun Mitte 20 und ein sehr zufriedener Mensch. Und dazu braucht er nicht mal viel. Grüßt man ihn auf der Straße, würde er niemals mürrisch nach unten gucken. Und wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, dann antwortet er „Gut.“ – aber aus voller Überzeugung und nicht bloß, weil man eben auf so eine Frage mit „Gut.“ antwortet. Tom ist Single und was Frauen angeht, lief es in den letzten Jahren häufig nach einem ähnlichen Schema ab. Man traf sich, fand sich schnell sympathisch und hatte ab sofort regelmäßigen Kontakt. Mit seiner offenen und humorvollen Art gelang es Tom, sich bei Frauen interessant zu machen. Sie mochten diese unbeschwerte Lebensweise, weil sie für Tom so selbstverständlich erschien. Er sagte, was er dachte und hatte keine Scheu, auch unangenehme Dinge anzusprechen. Vermutlich wären manche Frauen bereit gewesen, eine Beziehung einzugehen. Doch dazu ließ Tom es meistens gar nicht kommen. Spätestens wenn ihm gesagt wurde, was man sich mit ihm vorstellen könnte, verlor er das Interesse. Ihm fehlte etwas. Ständig verglich er seine Gefühle mit denen, die er im Sommer 2008 hatte. So wollte er es noch einmal erleben, darauf wartete er die ganze Zeit.

Aus jetziger Sicht weiß er aber, dass die ganze Sache zwar unendlich schön, aber auch sehr irreal war. Es kam einfach alles zusammen – Abitur, Ausland, Freiheit, Jugend, Alkoholeinfluss, Disco, Party. Das war nicht das echte Leben. Für den Moment vielleicht schon, aber nicht für immer. Und daher hat Tom sich etwas vorgenommen: Er möchte weiterhin an Italien denken, wenn ihm danach ist. Aber er möchte aufhören, immer wieder diese Vergleiche zu ziehen, wenn er eine Frau kennenlernt. Er darf daran nicht sein ganzes Leben festhalten. Denn die Nacht im sommerlichen Italien kann kein Maßstab für Dinge sein, die im regnerischen Norddeutschland passieren.

Ein Kommentar zu „Wenn der Kopf zu früh verdreht wird

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  1. Genau, es ist nicht die Frau, an die „Tom“ denkt, es ist das schöne Ereignis. Denn dieses Ereignis war perfekt. Eine perfekte Momentaufnahme. Nur, wie der Name schon verrät, eine Momentaufnahme. Eine, die viele Menschen allerdings NIE erlebt haben. Denen der Kopf NIE verdreht wurde. Und die sind dann mit irgendwas, was ihnen irgendwann widerfährt, glücklich. Weil sie es nicht intensiver kennen. Tom sollte sich also glücklich schätzen. Und Tom sollte erst dann, wenn ihm zumindest Vergleichbares widerfährt, Pläne schmieden. Mit einer anderen Frau. Eine, die den Moment überlebt. https://www.youtube.com/watch?v=qIM3T5pMBmA Ich LIEBE dieses Lied. Ach nee, SONG. Heutzutage gibt’s keine Lieder mehr. Heutzutage gibt’s nur Songs. Oder heißen die schon wieder anders? Egal, am Ende sind’s immer Lieder…

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