Glückstag

Als Christoph seinen dunkelblauen Golf 2 mit Lüneburger Kennzeichen auf den Parkplatz des städtischen Gymnasiums steuerte, schaute er ein vorletztes Mal hoffnungsvoll auf sein Handy. Wieder keine Nachricht. Bald würde er zum Nachsehen keine Gelegenheit mehr haben. Denn heute war der große Tag. Der Tag, auf den Christoph so lange hingearbeitet hatte. Er hatte in den letzten Jahren alles erfolgreich absolviert – Abitur, Studium, Referendariat. Mit dem Gefühl, endlich angekommen zu sein, zog er die Handbremse. Er zog sie entschlossen, um sich selbst zu verdeutlichen, dass er hier richtig war. Auf dem Weg zum Haupteingang beobachtete er einige Schüler und stellte sich vor, wie sie ihn „Herr Hoffmann“ nennen würden. So richtig hatte er noch nicht begriffen, dass er heute seinen ersten Tag als Lehrer haben sollte. Kurz bevor er die Tür zum Zimmer der Schulleiterin öffnen wollte, vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Hastig zog er es heraus und las eine Nachricht, die sein Herz um ein Vielfaches höher schlagen ließ: „Ich habe die Stelle in Hamburg :-)“.

„Dafür, dass Sie zur Arbeit gehen, sehen Sie ziemlich glücklich aus“, sagte eine freundliche Frauenstimme in seinem Rücken. Christoph verstand nur die Hälfte, weil er noch immer auf sein Handy starrte. Als er sich umdrehte, reichte ihm die junge Schulleiterin die Hand.

„Hallo – Maria Schäfer. Wir haben telefoniert.“

„Oh. Christoph Hoffmann, Hallo. Was sagten Sie?“

Die Schulleiterin lachte. „Ich sagte, dass Sie glücklich aussehen an Ihrem ersten Tag.“

„Äh, ja. Sagen wir’s so: Wenn man weiß, was man den Rest seines Lebens machen will, dann will man, dass der Rest des Lebens so schnell wie möglich beginnt.“

Wow, das musste sich in diesem Moment gut angehört haben. Warum er ausgerechnet jetzt auf dieses veränderte Zitat aus „Harry und Sally“ kam, wusste er nicht. Aber er fand es irgendwie passend. Und er sorgte mit diesem Satz für einen freudigen Gesichtsausdruck bei seiner zukünftigen Chefin. Nach dem angenehmen Begrüßungsgespräch stand Christoph mit seiner Aktentasche und der Klassenliste der 11b auf dem Flur und schaute sich ein Foto des gesamten Kollegiums an. Dann hörte er das erste Mal die Klingel und fühlte sich an seine eigene Schulzeit erinnert. Der Klassenraum, in dem er zukünftig viel Zeit verbringen würde, gefiel ihm. Als er ihn betrat, waren die 26 Schüler auf Anhieb ruhig. Es kribbelte.

„Guten Morgen, Jungs und Mädels. Wenn ich eure Gesichter so anschaue, dann muss ich sagen, dass ihr alle ziemlich gespannt ausseht. Aber ihr könnt mir glauben – das bin ich auch. Mein Name ist Christoph Hoffmann und ihr seid die allererste Klasse, die ich unterrichten werde. Und wisst ihr, warum ich nicht so alt aussehe, wie alle anderen Lehrer? Weil ich’s nicht bin. Ich bin 29 Jahre alt und manchmal noch so albern wie ihr mit euren 17 Lenzen. Letztens habe ich mir zwei Goldfische gekauft und sie „Einer“ und „Zwei“ genannt. Wenn „Einer“ stirbt, hab’ ich noch „Zwei“. Kleiner Spaß. Aber wisst ihr was? Ich habe Lust, Euch kennenzulernen. Im Studium habe ich aufgeschnappt, dass man von Menschen einen ersten Eindruck gewinnen kann, wenn man sie etwas Individuelles fragt. Es wäre super, wenn jeder von Euch einmal seinen Namen nennen und dann ein paar Worte über das Thema Glück verlieren würde. Was bedeutet Glück für Euch? Es kann alles sein, macht Euch bloß nicht zu viele Gedanken. Fangen wir bei Dir an. Du bist?“

Die Vorstellungsrunde war ein voller Erfolg. Nicht jeder Schüler holte bei seinen Äußerungen über das Glück weit aus, aber das störte Christoph nicht. Es war trotzdem möglich, jeden Schüler auf gewisse Weise kennenzulernen. Die Weitsicht mancher Antworten war beeindruckend. Auf der Klassenliste machte sich Christoph hinter jedem Namen ein paar Stichworte, um den gewonnen Eindruck zu sichern. Nachdem der letzte Schüler seinen Satz beendet hatte, blickte Christoph nickend in die Runde.

„Ein großes Dankeschön an Euch alle. Das hat jetzt über 25 Minuten gedauert und ihr habt Euch dabei noch recht kurz gefasst. Ich find’s schön, dass ihr so offen seid. Und wenn ich mir meine Stichpunkte hier so ansehe, dann fällt auf, dass das Wort „Glück“ oft mit denselben Begriffen in Verbindung gebracht wird. Diese Begriffe stehen alle für etwas Positives. Die Top 5 schreibe ich einfach mal an die Tafel. Da hätten wir auf Platz 5 das Wort Frieden. Völlig richtig – in unserer heutigen Welt ist es leider nicht normal, in Frieden leben zu können. Auf Platz 4 steht Gesundheit. Klar, das Wohlbefinden entscheidet fast alles. Es trägt in extremer Weise zum Glücklichsein bei. Auf Platz 3 hätten wir die Familie. Ein weiter Begriff. Wo fängt Familie an, wo hört sie auf? Sie wird wohl oft als lästig empfunden, aber ich wette, dass die meisten Menschen ziemlich unglücklich wären, wenn sie plötzlich allein dastünden. Auf Platz 2 steht hier die Liebe. Glaubt mir, über Liebe könnten wir die gleiche Fragerunde nochmal starten – Liebe ist so vielfältig. Aber sie steht zurecht so weit oben. Ohne Menschen und Dinge, die wir lieben, würde uns das innere Feuer fehlen. Ein Freund von mir hat mal gesagt: Glück ist es, Leidenschaften zu besitzen und ihnen auch nachgehen zu können. Leidenschaften sind Dinge, die wir lieben. Und Dinge, die wir lieben und auch tun können, machen uns glücklich. Ihr seht, die Grenze zwischen Glück und Leidenschaft verschwimmt. Ach, dazu könnte man lange philosophieren. Aber nun zu Platz 1. Wirklich oft gehört haben wir heute das Wort Zufriedenheit. Tja, wenn ich nicht mit mir selbst im Reinen bin, dann bin ich nicht glücklich. Das ist wohl so. Darüber, ob ihr zufrieden seid oder nicht, könnt ihr mal in einer ruhigen Minute nachdenken. Wenn ihr abends im Bett liegt zum Beispiel. Aber achtet darauf, nicht zu sehr zu verkopfen, denn vielleicht seid ihr auch dann am glücklichsten, wenn ihr es gar nicht merkt.“

„Herr Hoffmann?“, fragte plötzlich eine Schülerin aus der zweiten Reihe. „Was ist für Sie eigentlich Glück?“

„Ah, diese Frage musste kommen. Und die Antwort bin ich Euch natürlich schuldig. Nun ja, ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht. Es ist mir nicht gelungen eine einzig richtige „Herr-Hoffmann-Glücks-Definition“ zu formulieren. Bei dem Thema ist das nicht so leicht. Man schlägt nicht einfach ein Lexikon auf, liest beschreibende Worte über das Glück, stellt das Buch wieder weg und akzeptiert das so für sich. Wie ich anfangs schon sagte – Glück ist individuell. Und deswegen sollte die Frage nach dem Glück meiner Meinung nach eher aus dem Bauch heraus beantwortet werden. Nur wie ihr wisst, haben Lehrer so ihre Probleme damit, Dinge nicht analytisch aufzuarbeiten. Mir fiel das auch schwer. Ich unterschied das Glück anfangs in Bereiche, die wir beeinflussen können und die, die wir nicht beeinflussen können. Wenn ich einen Münzwurf über etwas entscheiden lasse und gewinne, dann ist das pures Glück. Oder, wenn ich beim Darts das Bullseye treffe, obwohl ich darauf nicht gezielt habe. Der Pfeil hat mein anvisiertes Ziel völlig verfehlt und landet zufällig in der Mitte der Scheibe. Die Punkte nehme ich natürlich trotzdem gerne mit. Dieses reine Glück, so möchte ich es mal nennen, hält sich über unbestimmte Zeit die Waage. Münzwürfe gewinnt und verliert man. Dann gibts da aber noch die Bereiche, die wir beeinflussen können. Und die haben dann wieder etwas mit unserem Platz 1 an der Tafel, Zufriedenheit, zu tun. Wenn wir es schaffen, unsere Umgebung so zu gestalten, dass wir zufrieden sind, dann werden wir ein dauerhaftes Gefühl von Glück erleben. Das fühlt sich vielleicht nicht so intensiv an, wie der Moment, in dem die Münze auf der richtigen Seite liegen bleibt, dafür sind wir viel länger gleichermaßen glücklich. Beeinflussen können wir vor allem unsere Freizeit, aber auch Konstanten wie unseren Wohnort, unseren Job oder unseren Freundeskreis. Aber: Wer nichts für sein Glück tut, der wird auch nicht mit reinem Glück überschüttet werden. Manchmal öffnen sich Türen dadurch, dass man nicht einfach nur rumgesessen hat.“   

„Herr Hoffmann?“, hörte Christoph wieder die Stimme aus der zweiten Reihe fragen. „Alles verständlich, aber was ist Glück für Sie ganz konkret?“

„Ach ja – zu analytisch, verstehe. Bei mir sind es oft banale Kleinigkeiten, die für einen kurzen Moment eine Art Herzensfreude auslösen, ein echtes Glücksgefühl. Zum Beispiel, wenn ich den Geruch meines Lieblingsessens wahrnehme. Oder wenn es mir gelingt, einen Flummi über drei Banden zu einem Kumpel springen zu lassen. Oder wenn mein Goldfisch-Witz gut ankommt. Es gibt unendlich viele dieser Kleinigkeiten und sie sind so wichtig. Aber für mich gibt es auch noch die größere Form des Glücks. Wisst ihr, meine Freundin arbeitet nun seit drei Jahren im Ausland, weil es hier viel zu viele Bewerber für zu wenige Stellen gibt. Das ist nicht immer leicht. Aber vor dieser Unterrichtsstunde bekam ich eine SMS von ihr, in der stand, dass sie eine Stelle in Hamburg bekommen hat. Sie hat sich einfach jedes Jahr wieder beworben. Auf diese Zusage haben wir so lange gewartet. Leute, diese SMS, gepaart mit meinem neuen Job an dieser Schule und der Aussicht auf das Zusammenleben mit ihr hier in der Nähe… ich habe das Glück heute ganz deutlich gespürt.“

6 Kommentare zu „Glückstag

Gib deinen ab

  1. Hallo,
    eine interessante/nachdenkenswerte Geschichte, dazu gut geschrieben. Du solltest das Wort „Definition“ korrigieren. Du siehst, ich lese sehr intensiv.
    Bis bald, Volkmar.

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  2. Hab ich ein Glück, den Schreiber dieser beeindruckenden Geschichte näher zu kennen! Es bereitet mir Glücksgefühle zu erfahren, dass er so Tiefgründiges zu Papier bringen und es doch so unterhaltsam verpacken kann! Zufriedenheit stellt sich ein, egal ob die Münze heute auf diese oder die andere Seite fällt…

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  3. Wow, Kompliment für diesen tiefgründigen aber doch so charmanten Text! Der Schulkontext gefällt mir ziemlich gut 🙂
    Eine Aussage verstehe ich aber nicht so ganz: „Wer nichts für sein Glück tut, wird auch nicht mit reinem Glück überschüttet werden.“ Hast du reines Glück nicht vorher als nicht beeinflussbar definiert? Oder spielst du hier auf das Schicksal an?

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    1. Danke für den Kommentar.
      „Von nichts kommt nichts.“ Ich glaube derjenige, der viel investiert, wird vom Zufallsglück eher mal getroffen als der, der nur rumsitzt und hadert.

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