„Ich finde eigentlich jedes Alter schön. Jeder Lebensabschnitt hat seine ganz eigenen Vorteile, die man nur zu schätzen wissen muss.“
Als die sehr aufgeschlossene Mittsechzigerin diesen Satz so oder so ähnlich sagt, weiß weder sie noch ich, dass er mir noch tagelang im Kopf herumschwirren wird. Die Frau klingt, als sei sie trotz ihres vorangeschrittenen Alters absolut im Gleichgewicht. Sie betreibt eine penibel gepflegte Minigolfanlage aus den fünfziger Jahren und gibt zu, den Umgang mit Schläger und Ball selbst überhaupt nicht zu beherrschen. Sie sitzt in ihrem kleinen Kassenhäuschen, während die Zeit neben ihr steht. Ein stinknormales Magnum-Eis kostet gerade mal 1,50 € und geht zusammen mit einem Mittelfinger für Tankstellenpreise über den Tisch. Weil wir in unserer Gruppe nicht verschweigen, dass ich heute Geburtstag habe, schenkt mir die Frau dazu noch eine Packung Maoam. Wenn sie bloß wüsste, wie sinnbildlich das für meine aktuelle Lebenseinstellung ist… Wie ein kleiner Fratz auf einem Kindergeburtstag verteile ich als nun 30-Jähriger etwas von dieser süßen Klebemasse unter meinen Mitspielern. Beim Draufbeißen nehme ich dem Wort gedanklich das „K“ und kaue ab jetzt auf Lebemasse herum. Das wäre eigentlich eine gute Marketingidee. Habe schon die Werbung im Kopf, in der gut gelaunte Menschen zum Lied „Alles ist jetzt“ von Bosse irgendwelche Sachen für einen Tag am Wasser zusammensuchen und sich etwas Lebemasse in die Hosentasche stecken. Oder ein Freibad gibt dem Wasser einen neuen Namen und wirbt damit, dass aus verschiedenen Höhen mit Schwung in Lebemasse gesprungen werden könne. Ich würd‘ ne möglichst spackige Arschbombe machen.
Sommertage fühlen sich an, als ob das Menü des Lebens in einer EDV-Software für ein paar Monate ein Update bekommt. Als würde ein Bereich freigeschaltet werden, der in den anderen Jahreszeiten bloß grau hinterlegt, aber nicht anklickbar, ist. Per drag&drop können wir uns in diesen Wochen Eigenschaften und Aktivitäten in unsere Lebensbereiche ziehen. Aber auch hier ist es ein Geben und Nehmen – Voraussetzung ist, dass wir (etwas übertrieben gesagt) all die Supersachen gegen unsere Basics eintauschen. Ich tausche zum Beispiel ein Fahrrad gegen ein elektrisches Crossboard, Wasser gegen Wein, eine Gelfrisur gegen Windhaare und Schlaf gegen laue Sommernächte. Das ist auf Dauer wahrscheinlich sehr kräftezehrend, tut für den Moment aber einfach gut. Im nächsten Sommer wird es dann neue Gimmicks geben. Die Software ist nämlich ohne copy&paste-Funktion auf den Markt gekommen, weil die zu eingefahrenen Lebensrhythmen führen würde. Natürlich bleiben manche Dinge über mehrere Sommer gleich, aber der Lauf der Zeit, über den ich mir (vielleicht auch in Verbindung mit meinem Geburtstag) Gedanken gemacht habe, lässt sich kaum steuern. Immer wird gelacht, wenn alte Fotos rausgekramt werden, immer ändern sich Klamottentrends, Frisuren, Möbel. Ich finde es erstaunlich, dass diese Veränderungen schleichend passieren. Aber genau das ist schön: Wenn ich nicht total verkopft und unnötig durchstrukturiert bin, dann weiß ich im Januar nicht, was im Juli sein wird. Zumindest nicht bis ins kleinste Detail. So viel Spontanität sollte sich jeder bewahren, denn wer weiß schon, wie die Zukunft aussehen wird? In einem Live-Podcast ging gerade die Frage ins Publikum, ob es Kinder, die heute geboren werden, später besser haben als wir jetzt. Weil es ja oft heißt: „Ich möchte, dass meine Kinder es mal besser haben.“ Die Mehrheit verneinte die Frage – vermutlich in Anlehnung an den Klimawandel. Das stellt für mich natürlich kein grundsätzliches Argument gegen Kinder dar, aber es bestärkt mich in meiner Hier-und-Jetzt-Philosophie. Denn das Gute und Bessere wird sich nicht unendlich steigern lassen. Wenn später immer alles besser ist als jetzt – gibt es dann wirklich nie eine Grenze? Und falls doch: Wo ist die und wie sieht sie aus?
Abschließen möchte ich diesen 32 Grad heißen Sommertext im „Café am Rande der Welt“. Ein dünnes Buch, an dem man gerade kaum vorbeikommt. Der Autor setzt sich mit dem „Zweck der Existenz“ auseinander und stellt dafür im Wesentlichen drei Fragen:
1. Warum bist Du hier?
2. Hast Du Angst vor dem Tod?
3. Führst Du ein erfülltes Leben?
Die Frage nach dem Zweck der Existenz impliziert, dass es überhaupt einen Zweck gibt. Allein dazu haben die Leser bestimmt unterschiedliche Meinungen. Aber auch die drei Fragen, die auf den ersten Blick einfach und plump wirken, lassen sehr viel philosophischen Spielraum zu. Man muss schon in der richtigen Stimmung sein, um sich damit zu befassen, aber es lohnt sich. Meine Antworten auf die Fragen werde ich vielleicht im nächsten Text geben. Vielleicht auch nicht, denn mit dem „Wiedersehen im Café am Rande der Welt“ gibt es mittlerweile einen zweiten Teil, den ich noch nicht kenne. Wie auch immer – ich reiße gedanklich gern mal die Fenster auf, um kleine Geistesblitze voll abzukriegen. Das funktioniert besonders bei längeren Autofahren, obwohl man vor Blitzen angeblich nirgendwo besser geschützt sein soll.
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