Wenn ich Du wäre

Die im Hintergrund immer leiser werdende Musik war noch zu hören, als Hanna minimal angetrunken und maximal melancholisch ihre Bierflasche an der Theke abgab, die schwere Kneipentür öffnete und die frische Luft, die ihr entgegenschlug, auf ihrem Gesicht spürte. Tief in Gedanken atmete sie einmal bewusst so lange ein und wieder aus, dass sie dafür kurz stehenbleiben musste. Der neutrale Beobachter hätte beim Ausatmen ein winziges Schmunzeln auf ihren Lippen erkennen können, ehe sie mit leicht gesenktem Kopf auf eine erschöpfte, verträumte Art und Weise zum Fahrradständer schlich. Sie genoss ihre Gefühlswelt, in der sie sich gerade befand. Vielleicht auch, weil sie ein ganz kleines Bisschen verboten war. Hanna führte seit über einem Jahr eine intakte Beziehung und würde daran absolut nichts ändern wollen, aber an diesem Abend riss sie zumindest gedanklich etwas aus. Und das war dann für sie doch nicht mehr so verboten – aber aufregend. Am Fahrrad angelangt, stellte sie unterbewusst die richtige Zahlenkombination am Schloss ein, stieg auf und fuhr etwas langsamer als gewöhnlich zu ihrer Wohnung. Noch über eine Stunde lag sie leicht aufgewühlt mit passender Spotify-Liste im Bett, als ihr schließlich die Augen zufielen. Das war seit dem Konzert das erste Mal, dass die mit Freudentränen getränkten Augen von Sina vor ihr verschwanden.

Der Abend zuvor gehörte Luca. Und er gehörte ihm zurecht. Luca war, genau wie Hanna, Musikstudent an der Uni und zählte seit Beginn des Studiums zu den talentiertesten Musikern. Eigener Youtube-Kanal, eigene Facebookseite und jetzt tatsächlich das erste kleine Album, das ab diesem Abend im Netz gekauft werden konnte. Luca trat schon oft vor Leuten auf, aber diesmal sollte es auch für ihn außergewöhnlich werden. Er hatte mit seiner eigenen Band einen der angesagtesten Clubs der Innenstadt reserviert, um dort sein bisher größtes Konzert zu geben. Als Hanna davon hörte, gönnte sie es Luca von ganzem Herzen. Sie nahm ihm seine Leidenschaft zur Musik voll ab, war aber gleichzeitig sehr gespannt, wie er mit der Aufregung auf der Bühne wohl umgehen würde. Hanna hatte in den letzten Jahren selbst Erfahrungen mit einer Band gesammelt und wusste das daher alles einzuschätzen.
Nachdem die Vorband ihren letzten Song gespielt hatte, blickte Luca in den gut gefüllten Raum, erspähte einige Kumpels und seine Freundin Sina, für die er sich noch etwas ganz Besonderes hatte einfallen lassen. Kurz bevor es losging, raste sein Puls. Noch im Dunkeln setzte er sich mit seiner Band an die Instrumente und begann das Konzert ohne einleitende Worte. So hatte es ihm bei anderen Konzerten immer am besten gefallen. Als die Scheinwerfer zu leuchten begannen, bekamen mindestens zwei der vielen Personen eine Gänsehaut. Luca, weil es jetzt kein zurück mehr gab und sein Körper unheimlich viel Adrenalin ausschütte und Hanna, weil sie sich nicht dagegen wehren konnte, sich an frühere Zeiten zu erinnern. Jetzt, da sie ihn mit Akustikgitarre auf einem Barhocker dort sitzen sah, dachte sie an vergangene Tage des Studiums. Sie fragte sich, ob es ihr damals nur so vorgekommen war oder ob Luca wirklich Interesse an ihr gehabt hatte. So fühlte es sich nämlich an, als er an diesem einen Abend immer wieder ihre Nähe suchte. Auf einer Party setzte er sich neben sie, folgte ihr nach ein paar Anstandsminuten vor die Tür und versuchte immer wieder unauffällig, aber doch spürbar, Kontakt aufzubauen. Hanna schmeichelte das sehr, doch sie war auch damals schon vergeben und ließ sich zu nichts hinreißen. 

Sie stand während des Konzerts in der ersten Reihe und nutzte jeden Song, um Luca zu beobachten. Sie schaute auf seinen Schuh, der sicher im Takt wippte, inspizierte seine Hände, die gefühlvoll die Gitarre spielten, und sah ihm in die Augen. Auch er schaute hin und wieder in ihre Richtung, aber Hanna war sich nicht sicher, ob er sie oder Sina angrinste, die direkt neben ihr stand. Hanna gefiel es zwar, ihn zu beobachten, aber sie himmelte Luca nicht an. Denn es war gut wie es war. Sie war glücklich. Aber jetzt in diesem Moment erlaubte sie sich ein paar Hirngespinste. Das konnte doch so schlimm nicht sein. Und es machte sogar Spaß. Gegen Ende des Konzerts erzählte Luca davon, dass Paare ganz oft ein gemeinsames Lied hätten. Das würde ganz automatisch während des Kennenlernens geschehen. Dann sprach er Sina, die Hanna auch schon länger kannte, persönlich an und sagte ihr vor allen Leuten, wieviel ihm ihr Lied noch immer bedeute. Zeit für Hanna’s zweite Gänsehaut. Sie beobachtete Sina ganz genau während dieser Ansprache. Und als die ersten Töne des Songs zu hören waren, flossen sofort Tränen. Hanna sah so viel Stolz in Sina’s Augen und konnte sich gegen die Wenn-ich-Du-wäre-Gedanken nicht wehren. Sie gab sich hin, stellte sich vor wie alles wohl verlaufen wäre, wenn ihr damaliger Freund nicht gewesen wäre. Wenn sie jetzt da gestanden und Luca für sie gespielt hätte. Und nachdem Hanna einmal begonnen hatte, über das Spiel des Lebens nachzudenken, war sie für den Rest des Abends in dieser Welt gefangen. Gefangen, ohne wieder hinaus zu wollen. Sie gönnte sich diesen konjunktiven Kurztrip, weil sie wusste, dass die kommende Nacht sie wieder befreien würde. Und so kam es auch. Mit dem Klingeln des Weckers endete der Trip und Hanna war froh, ihn gemacht zu haben. In einer Nachricht an eine Freundin verarbeitete sie das Erlebte und kam selbst zu dem Ergebnis: „ Es geht immer um glückliche Zufälle und verpasste Chancen im Leben. Das nennt man wohl Schicksal.“ 

  

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