Die Waffen des Konjunktivs

Beim Betreten der gläsernen Halle scheint sie zu schweben, zumindest aber über den Dingen zu stehen. Von rasendem Puls keine Spur. Dass sie die endlos lange Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle wegen der vielen Menschen aus der Ferne nicht nur sehen, sondern auch hören und sogar etwas riechen kann, stört sie in diesem Moment kaum. Es ist ein außergewöhnliches Gefühl, all die nervtötenden Dinge, die ein Langstreckenflug mit sich bringt, einfach an sich abprallen lassen zu können. Viel zu früh hat sie sich am Morgen auf den Weg gemacht, allen Eventualitäten zum Trotz. Ihr Zeitpuffer ist so fluffig wie die Schaumkrone des Kaffees, den sie sich gleich am Gate bestellen wird. Sie ist ausgeglichen, sie fühlt sich bereit. Aber es schwingt auch eine große Portion Melancholie mit. Denn sie hat nun das, was er am Ende nicht hatte – Zeit.

Als sie sich den Gürtel aus den Schlaufen zieht, ihn zusammen mit den anderen Sachen in die rollende Plastikschale legt und dem 360° Scanner mit angehobenen Armen die Stirn bietet, fühlt sie sich stark. Etwas an dieser Situation erinnert sie an das erhabene Gefühl eines Kindes, wenn es zum ersten Mal allein eine längere Zugfahrt meistert, bei der es dreimal umsteigen muss. Es ist ein Gefühl von vergessener Unabhängigkeit, das ihren Körper durchströmt. Man sollte zwar meinen, dass eine Frau in den Sechzigern der Unabhängigkeit grundsätzlich näher sein müsste als ein Kind, doch nach mehreren Jahrzehnten Ehe, die ein unfaires Ende nahm, ist die neue Freiheit doch mit der eines reisenden Kindes zu vergleichen. Nach dem Security-Check suchen ihre Augen die Hinweisschilder nach dem richtigen Gate ab, während sich ihre rechte Hand nicht zum ersten Mal bestätigen lässt, dass die Flugtickets auch wirklich in der vom Reißverschluss bewachten Handtasche liegen. Zu wissen, dass sie es ohne Komplikationen bis hierher geschafft hat, lässt ihren sonst so zielstrebigen, straffen Gang etwas langsamer werden. Beinahe majestätisch schlendert sie auf den kühlen Fliesen entlang und beobachtet die Gesichter der anderen Menschen, die entweder in Zeitschriften blättern, mit Airpods in den Ohren ins Nichts swipen oder hastig einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Die Hände souverän hinter dem Rücken gekreuzt, setzt sie langsam einen Fuß vor den anderen und beginnt, sich in einen Zustand bewusster Achtsamkeit zu begeben. In ihrem Leben sind es oft Momente des Innehaltens, die sie zu dieser Gemütslage führen. Das ist der Grund dafür, dass sie sich an Heiligabend gern schweigend auf eine der geduldigen Holzbänke in der Kirche setzt oder die Ruhe der Natur genießt. In der Heimat fährt sie fast jeden Morgen zu einem nah gelegenen Waldstück, steigt gemeinsam mit ihren Gedanken aus dem Wagen und betritt ohne jegliche Ablenkung das Dickicht. Die ersten Meter gehen sie und ihr Geist im Gleichschritt, doch schon an der zweiten Lichtung sucht er sich seinen eigenen Weg, den er, beeinflusst von Musik oder Podcasts, niemals gefunden hätte. Sie weiß genau, wie sie ihren Gedanken in der Natur trotz Leinenpflicht freien Lauf lassen kann. Von oben betrachtet sieht es aus wie bei dem Spiel Pac-Man in den Achtzigern: In einem Quadrat mit vielen Wegen nehmen zwei Elemente verschiedene Routen, nähern, entfernen und jagen sich, bevor sie irgendwann unausweichlich aufeinander treffen. Sie mag den Augenblick, in dem sich die Gedanken von ihr lösen und das Spiel beginnt.

Der Kaffee ist so heiß, dass sie ihn auf der kleinen Fläche zwischen den schwarzen Sitzen im Wartebereich abstellen muss. Leicht nach vorn gebeugt, die Ellenbogen abgestützt auf den Oberschenkeln, sitzt sie da nun und schaut auf die Landebahn, viereinhalb Jahre nach der Diagnose. Ein Flugzeug startet, ein anderes landet. Ein Mensch geht, ein anderer kommt. Wäre all das nicht gewesen – wäre die Krankheit nicht gewesen – dann säße sie hier heute nicht allein. Wahrscheinlich säße sie hier überhaupt nicht, denn Afrika wäre sein Lieblingsziel womöglich nicht gewesen. Am ehesten wäre sie an diesem Tag einfach daheim geblieben, hätte ein Stück Kuchen gegessen, im Wohnzimmer, mit ihm. Während sie sich diese Szenen ausmalt, dreht sie ihren Kopf leicht zur Seite und bemerkt den ekeligen Konjunktiv, der mal wieder geräuschlos neben ihr Platz genommen hat. So gut sie sich in den letzten Monaten auch mit ihm arrangieren konnte – er ist und bleibt ein schwer bezwingbarer Gegner. Ihm komplett den Zutritt zur eigenen Psyche zu verwehren, ist so aussichtslos wie das Abtöten von Schläferzellen. Immer wieder wird er in seinen unterschiedlichen Formen auftauchen und fragen, was gewesen wäre, was sein könnte und was noch kommen würde. Aber sie hat gelernt, nicht mehr jede dieser Fragen zu beantworten. Da er sich nicht ankündigt, entscheidet sie selbst darüber, wann sie ihm die Tür öffnet und wann nicht. In manchen Situationen lässt sie die Konfrontation sogar gern zu, denn bei all den schmerzenden Gedanken daran, was mit ihm in der Zukunft noch hätte kommen können, schlägt sie den Konjunktiv mittlerweile mit seinen eigenen Waffen und fragt: „Was wäre mir ohne ihn bloß alles entgangen?“ Mit dieser Gegenfrage schafft sie es, die Sichtweise zu ändern und ein Gefühl von starker Dankbarkeit auszulösen, das ihr unheimlich viel Kraft gibt. Es macht sie fast stolz, mit dieser Dankbarkeit einen so einfachen, aber hochwertigen Baustoff für den Schutzwall ihrer Psyche gefunden zu haben.

Der plötzlich kalt gewordene Kaffee lässt sie wissen, wie leicht sie sich auch heute noch in diesen Gedankenspielen verlieren kann. Sie denkt an die guten Zeiten ihrer Vergangenheit zurück und weiß, dass sie nun allein ist, ohne dabei tatsächlich allein zu sein. Sie denkt an den Lauf der Zeit, an ihre Eltern und an ihre Jugend. Sie denkt an ihre Kinder, die heute keine mehr sind, sie denkt an ihre Freunde und Nachbarn. Und jetzt, da das Boarding an Gate A23 zu beginnen scheint, denkt sie nach all den kräftezehrenden Momenten zum ersten Mal ganz bewusst nur an sich. Kurz bevor sie im Tunnel zum Flieger verschwindet, dreht sie sich ein letztes Mal um und schaut dem Konjunktiv, der noch immer beharrlich im Wartebereich sitzt, triumphierend ins Gesicht. Innerlich muss sie fast etwas grinsen, denn während sie einen Platz am Fenster hat, steht er nicht mal auf der Passagierliste.

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