Als die Straßenbahn mit einem beruhigenden Bremsgeräusch ankommt, ist noch alles wie immer. Mit Kopfhörern in den Ohren drückt Sina auf den Türknopf und steigt ein. Dann lenkt sie ihren Blick in alle Richtungen, in der Hoffnung auf freie Plätze. Schließlich findet sie drei seitlich angeordnete, leere Sitze. Die Rückenlehnen zeigen zum Fenster. Erschöpft lässt Sina sich auf das mittlere Polster fallen und gleitet seitwärts durch den nüchternen Morgen. Ihr fallen die Augen zu, so wie jeden Tag. Sie genießt es, vor den vielen Stunden im Büro gedanklich nochmal etwas abzuschweifen.
Nach ein paar Stationen hat auf der gegenüberliegenden Sitzreihe unbemerkt ein Mann Platz genommen. Als Sina blinzelt, sieht er sie mit großen Augen an. Sein gesamtes Erscheinungsbild sorgt für ein unausweichliches Vorurteil in ihrem Kopf – sein Pullover von Constaple untermauert das. Da sich seine Lippen bewegen und er weiter in ihre Richtung guckt, nimmt sie aus Höflichkeit einen Kopfhörer aus dem Ohr. Erst als er sich zu wiederholen scheint, kann Sina ihn hören.
„Ich werde es nie verstehen“, grummelt er und schüttelt den Kopf.
„Was?“, fragt Sina etwas zu genervt.
„Ich verstehe das einfach nicht.“
„Was verstehen Sie nicht?“
„Dass Du in der Mitte sitzt.“
„Bitte?“, hakt Sina skeptisch nach.
„Du kommst in die Bahn und nimmst von drei freien Plätzen anscheinend den mittleren.“
„Ja, und?“
„Wenn Du die Wahl zwischen links, Mitte und rechts hast – wieso setzt Du Dich dann in die Mitte?“
„Sorry, was wollen Sie von mir?“
„Man kann sich doch positionieren, wenn man schon die Möglichkeit dazu hat. Auf welchem Platz sitze ich?“
„Auf dem linken.“
„Nein verdammt, auf dem rechten!“
„Von hier aus betrachtet, sitzen Sie von den drei Plätzen eindeutig auf dem linken.“, stellt Sina nochmal klar.
„Ach diese scheiß Diskussion wieder…“, sagt er und kratzt sich im Nacken. „Aus meiner Sicht sitze ich auf dem rechten Platz. Und darum gehts. Ich will mir selbst zeigen, was gut ist. So oft wie möglich.“
„Das kann ich nicht nachvollziehen, tut mir Leid.“, sagt Sina, während sie ihren Kopfhörer wieder in Richtung Ohr führt.
„Politisch gesehen bin ich rechts, gebe ich zu“, sagt er schnell. „Und ich sehe in sehr vielen Situationen im Alltag die Möglichkeit, das zu zeigen. Wenn ich auf drei freie Sitze zukomme, dann setze ich mich natürlich auf den rechten, ist doch klar.“
„Dann ist der mittlere Sitz ja ganz gut für mich. Die AFD sitzt im Bundestag mit Blick aufs Rednerpult übrigens links.“, sagt Sina und kann sich die folgende Frage nicht verkneifen: „Wie können Weidel, Gauland und Meuthen damit leben, aus deren Sicht immer ganz links zu sitzen?“
„Weiß nicht. Ich kenn die nicht. Das ist was anderes.“
„Eigentlich nicht.“, schmunzelt Sina. „Haben Sie eigentlich Neurosen?“
„Wieso? Ach komm, egal. Aber ist Dir mal aufgefallen, in wie vielen alltäglichen Sprichwörtern die rechte Seite viel besser dasteht als die linke?“
„Sie richten Ihre politische Einstellung nach Sprichwörtern aus? Dann fragen Sie sich mal, warum es heißt: Mein rechter, rechter Platz ist frei…“, sagt Sina fast lachend.
„Warum denn?“
„Weil rechts niemand sitzen will. Der Platz bleibt immer frei.“
„Quatsch. Jemand, der das Herz am rechten Fleck hat, würde sich da auf jeden Fall hinsetzen.“
„Sie wissen aber schon, dass sich das Herz zu zwei Dritteln auf der linken Seite des Brustbeins befindet?“
„Wieder eine Frage der Perspektive.“, antwortet er trotzig.
„So wie im Bundestag?“
„Alter, wir leben in einem Rechtsstaat. Da steckt das Wort doch schon drin. Überall sind diese kleinen Hinweise, dass rechts besser als links ist. Links ist da wo der Daumen rechts ist und so.“
„Das ist nicht ihr Ernst oder? Kann ich ja genauso gut umdrehen. Dann ist rechts da, wo der Daumen links ist. Und rechts hat übrigens nicht unbedingt etwas mit Recht zu tun.“
„Ist ja nicht das einzige Beispiel. Ein Rechtsklick am PC eröffnet einem ganz neue Möglichkeiten. Und ein Grünpfeil-Schild an einer roten Ampel zeigt eigentlich immer nach rechts.“
„Richtung Bündnis ’90?“
„Nein, einfach nach rechts, unabhängig von der Farbe. Abbiegen nach rechts geht übrigens auch einfacher als nach links.“
„Nicht in England.“
„Aber hier. In good old Germany.“
„Und Überholen?“
„Kann ich mit ner Straßenbahn nicht.“
„Dürften Sie nur links. Wäre rechts sogar verboten. Außer in England. Aber Sie denken ja sehr patriotisch.“
„Andererseits gibt’s das Rechtsfahrgebot. Man soll sich eben immer nach rechts orientieren.“
„Und was lernen Ihre Kinder, wenn sie über die Straße gehen? Sie gucken links, rechts, links – richtig? 2:1 für links.“
„Ich hab keine Kinder.“
„Ist vielleicht gut so. Was ist mit dem Sprichwort: Rechts stehen, links gehen?
Rechts geht’s nämlich nie voran. Nicht auf der Autobahn und auch nicht auf der Rolltreppe.“
„Du bist ganz schön schlagfertig, junge Frau.“
„Ja, wir müssen aufpassen in Deutschland. Wenn wir die Dummheit links liegen lassen, taucht sie rechts wieder auf.“, sagt Sina. Sie wendet den Blick von ihm ab und schaut aus dem Fenster.
„Hast Du mich damit gerade beleidigt? Findest Du mich dumm?“
„Etwas schon, ja. Seit wann duzen wir uns eigentlich?“
„Ist ja lächerlich. Ich muss an der nächsten Haltestelle raus. Werde übrigens mit dem rechten Fuß zuerst aus der Bahn treten. Ist ein Ritual.“
„Machen Sie das. Und grüßen Sie Ihren Arzt.“
„Meinen Arzt?“
„Oder Ihren Psychologen. Einfach den, der Ihre neurotische Rechts-Links-Schwäche behandelt.“
„Unwitzig. Eine Frage noch:Wenn Du nen Elfer kriegen würdest – in welche Ecke würdest Du schießen?“
„In die Mitte. Schönes Nazi-Leben noch.“
Hat mir „recht“… ähhh „echt“ gut gefallen
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